Benjamin Lackner – p
Mathias Eick – tp
Mark Turner | Maciej Obara – sax
Linda May Han Oh | Harish Raghavan – b
Matthieu Chazarenc – dr
Quartett
Benjamin Lackner – p
Mathias Eick | Mathieu Bordenave– tp | sax
Jerôme Regard | Paul Kleber – b
Manu Katché | Matthieu Chazarenc – dr
Trio
Benjamin Lackner – p
Jerôme Regard – b
Matthieu Chazarenc – dr
Keine drei Jahre ist es her, dass der deutsch-amerikanische Pianist Benjamin Lackner mit seinem Album LAST DECADE (ECM, 2022) ein einfühlsames Zeitporträt gemalt hat, das sich wie ein heilendes Pflaster auf die Herausforderungen der damaligen Zeit legte, ohne sich in Eskapismus zu flüchten. Diese Platte mit Trompeter Mathias Eick, Bassist Jérôme Regard und Schlagzeuger Manu Katché war in sich so stimmig und komplett, dass es der Musik absolut nichts hinzuzufügen gab. Doch der Augenblick ist deshalb ein Augenblick, weil es immer ein Danach gibt. Einfach so weitermachen wie auf LAST DECADE verbot sich für den sensitiven Klangregisseur Lackner, denn drei Jahre später gilt es, neue Geschichten mit anderen Mitteln zu erzählen.
Vom alten Quartett ist nur Mathias Eick geblieben. Dazu kommen Saxofonist Mark Turner, Bassistin Linda May Han Oh und Schlagzeuger Matthieu Chazarenc. Diese Besetzung allein ist schon ein Statement. Ein Norweger und ein Franzose – man könnte auch salopp sagen zwei Europäer, doch zwischen Norwegen und Frankreich liegen derart große historische, kulturelle und mentale Unterschiede, dass man da kaum von gemeinsamen Wurzeln sprechen kann. Linda May Han Oh vereint in sich ein ganzes Bündel von Identitäten. In Malaysia geboren, wuchs sie in Australien auf und lebt seit ihrem 25. Lebensjahr in den USA. Mark Turner wiederum ist eine der markantesten Stimmen des aktuellen amerikanischen Jazz-Feingefühls. Lackner selbst hat Wurzeln in Berlin und Los Angeles und fungiert gewissermaßen als Bindeglied zwischen all den Temperaments und den Mentalitäten in seiner Band.
Für Lackners klangpsychologisches Feingefühl spricht darüber hinaus, dass dieses spezielle Mischungsverhältnis überhaupt nicht beabsichtigt war. „Ich gehe immer zuerst nach dem Sound. Mark Turners Karriere verfolge ich zum Beispiel seit 1995. Er spielt mit großer Ruhe, lässt viel Platz und schlägt mit seinen Soli weite Bögen. Diese Ruhe hat uns bei den Aufnahmen sehr geholfen. Auch mit Linda May Han Oh wollte ich schon lange zusammenarbeiten. Es ist aber nicht leicht, mit den beiden einen Termin hier in Europa zu finden. Dass wir aus so vielen Ecken der Welt, also aus Paris, Oslo, Boston, Los Angeles und Berlin zusammenkommen, ist eher Zufall. Und trotzdem machen sich diese Hintergründe musikalisch und emotional bemerkbar. Denn jeder bringt sein Umfeld mit. Und wir haben uns wirklich erst in Gegenwart von Manfred Eicher im Studio kennengelernt.“
Warum ist diese Betonung von Umfeld und Identität nun so sehr von Belang? In einer Epoche zunehmender Globalisierung und digitalisierter Uniformierung des Einzelnen können wir ein immer sensibleres Verhältnis großer Teile der Weltbevölkerung zur Identitätsfrage wahrnehmen, das Gräben oft eher aufreißt, statt sie zuzuschütten. Und da kommt Benjamin Lackner ins Spiel. Es gelingt ihm im Handstreich, all diese unterschiedlichen kulturellen Einflüsse und Weltsichten zu harmonisieren, indem er sie ernst nimmt, statt sie zu ignorieren. Ohne dafür Parolen bemühen oder Transparente schwenken zu müssen, stellt er sich auf sehr subtile Weise einer Realität, die er weder leugnen kann noch will. In dieser Hinsicht schließt SPINDRIFT dann doch wieder an LAST DECADE an, nur eben unter völlig anderen Vorzeichen und mit einem entsprechend zugespitzteren Ergebnis. Um es auf eine kurze Formel zu bringen, SPINDRIFT ist Musik, die uns alle angeht, egal, woher wir kommen, wie und womit wir uns identifizieren und als was wir von außen wahrgenommen werden.
Ein wesentliches Moment auf diesem Album ist der Raum. Alles entsteht im Raum. Als Hörer bekommt man kein fertiges Produkt vorgesetzt, sondern hat Teil an der Entstehung, kann die fünf Beteiligten buchstäblich beim Hören hören. Tatsächlich entstanden die Einspielungen sehr spontan, und diese Frische ist mit Händen zu greifen. Alle ließen einander unglaublich viel Platz. Das trifft vor allem auf den Bandleader selbst zu. Man muss ihn gar nicht in ununterbrochen konkret hören, aber er strahlt eine derartige Gravitation aus, dass seine Präsenz in jedem einzelnen Moment spürbar ist. Genau diese Eigenschaft entspricht auch seinem Charakter, und wahrscheinlich hat er sich gerade aus diesem Grund speziell für diese Mitwirkenden entschieden. „Bei dieser Kombination hatte ich ein solches Vertrauen in die Leute, dass ich nicht das Gefühl hatte, viel tun zu müssen. Ich konnte es einfach passieren lassen. In den meisten Fällen haben wir uns tatsächlich für den ersten Take entschieden, aber es sind ja meine Melodien. Und ich habe keinen Drang, mich in der Musik selbst zu beweisen. Das fände ich schrecklich.“
Ein Rechthaber ist Benjamin Lackner ganz sicher nicht, weder menschlich noch musikalisch. Er lässt seine Mitstreiter machen, auch wenn er in derselben Situation vielleicht gerade eine ganz andere Entscheidung treffen würde. Aber dann bräuchte er keine Band, sondern könnte alles im Alleingang liefern. Das gesamte Album ist von einer unvergleichlichen Großzügigkeit im gegenseitigen Ausdruck gekennzeichnet. Auch dieses Zulassen einer anderen Meinung und Haltung ist ein Kontrapunkt zum Zeitgeist. Denn nur auf diese Weise findet man zusammen. Eick, Turner, May Han Oh, Chazerenc und Lackner finden zusammen, bedingungslos und ergebnisoffen. Gerade deshalb kommen sie gemeinsam zu Lösungen, die für sie ebenso überraschend sind wie für die Hörer, und das erstaunlicherweise bei jedem neuen Hören.
Die Fünf wissen, in welcher Zeit und vor welchem Hintergrund SPINDRIFT eingespielt wurde. Wo auf LAST DECADE einfach nur Frieden war, zieht sich diesmal auch der ein oder andere Schatten durch die Songs. Das ist beabsichtigt. „Ich will einfach nur Liebe geben und Raum lassen“, seufzt Lackner aus tiefster Überzeugung, und doch tut er so viel mehr. In erster Linie ist sein Album eine Suite wundervoll komponierter und gespielter Stücke, darüber hinaus ist es aber auch eine Hilfestellung zur Bewusstwerdung der Dimension des nur vermeintlich Unvermeidlichen. Benjamin Lackner erinnert uns daran, dass wir alle eine Stimme haben.
Wolf Kampmann
Warum wird überhaupt noch Musik gemacht und auf Alben veröffentlicht? Wieso gelingt es mit dem immer selben, äußerst überschaubaren Vorrat an Tönen auch nach Jahrhunderten noch, Dinge auszudrücken, die so noch nie gesagt wurden? Weil jede dieser Melodien, Konzepte oder Konstellationen absolut neu wäre? Oder liegt es vielleicht eher daran, dass einige wenige auserwählte Musikerpersönlichkeiten in geradezu magischer Vorausschau genau den Ton treffen, der sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung mit einem allgemeinen Bedürfnis synchronisiert und eine Gefühlslage oder Hoffnung zum Ausdruck bringt, die mit Worten nur sehr unzutreffend eingefangen werden könnte.
Ein solcher Musiker ist der in Berlin lebende Klangphilosoph Benjamin Lackner, der mit seiner in der Unendlichkeit ruhenden Momentaufnahme LAST DECADE (ECM, 2022) einen Kontrapunkt zu jener Temposucht geschaffen hat, die uns in immer kürzeren Intervallen immer mehr Informationen aufzwingt. War das seine Absicht? Wohl kaum. Ist es ein Zufall? Noch viel weniger. Jedwede Hierarchie der Klänge außer Acht lassend jedem einzelnen Ton Bedeutung beizumessen, ist einfach die Art und Weise, die holistische Tiefgründigkeit und Ernsthaftigkeit, ja auch die unerschütterliche Zuverlässigkeit, mit welcher der Pianist seine Musik umsetzt.
Wenn man das Zusammenspiel von Lackner mit dem norwegischen Trompeter Mathias Eick sowie den beiden Franzosen Jérôme Regard am Bass und Manu Katché am Schlagzeug hört, werden Erinnerungen wach. Erinnerungen an den Sound einer Zeit, die aus der Retrospektive als eine bessere erscheinen mag. Dieser Eindruck ist trügerisch, denn auch wenn sich Lackner von seiner Erinnerung weder frei machen will noch kann, unterscheidet sich sein Impuls, diese Musik zu spielen, doch gar nicht von jener der Protagonisten aus der Vergangenheit. LAST DECADE ist ein Fenster in die Gegenwart, in der die Reminiszenzen der Erinnerung freilich hör- und spürbar sind. Ohne irgendjemanden zu kopieren, schließen Lackner und die Mitglieder seiner Band an eine verloren geglaubte Ästhetik an und transportieren ihre Vorstellung einer imaginären Vergangenheit souverän in die Zukunft. Was zuweilen wie eine Hommage klingt, ist letztlich eine selbstbewusste Standortbestimmung.
Was Benjamin Lackner von vielen seiner Vorbilder unterscheidet, ist sein Verzicht auf große Gesten. Die poetische Beiläufigkeit, mit der er seine traumhaft schönen Melodien spielt, erinnert an den Flug eines Schmetterlings, dessen Flugbahn die verwunschensten Ornamente in die Luft zeichnet, ohne dass diese auf Anhieb fassbar wären. Bei Lackner ruht das Kleine im Großen und das Große im Kleinen. Das verbindende Element zwischen beiden Prinzipen ist der unprätentiöse Augenblick, in dem es geschieht.
Die Aufnahmen zu LAST DECADE erfolgten im September 2021. Da waren die Zeiten schon kompliziert genug, doch niemand hätte damals geahnt, an welchem Punkt wir im Moment der Veröffentlichung gesellschaftlich, global und auch individuell angekommen sein würden. Mit fast prophetischer Weitsicht hat Benjamin Lackner vor über einem Jahr eine Musik erschaffen, die sich wie ein heilender Film auf die Nöte und Ängste der Gegenwart legt.
Er öffnet Türen und stellt den Dualismus von Musiker und Hörer auf den Kopf, weil er fast den Eindruck vermittelt, er wäre es, der für uns in die schier unauflösbare Komplexität unserer Sorgen und Hoffnungen hinein hört. Diese Songs sind nicht um der Musik willen gemacht worden, sondern um gehört, nein, um empfunden und gelebt zu werden. „Ich musste lernen, bei allen politischen und gesellschaftlichen Turbulenzen bei mir zu bleiben und die Wärme, die ich auf diesem Album gebe, aus meinem Innern heraus selbst zu schaffen“, konstatiert Benjamin Lackner. Diese Hürde hat er mit LAST DECADE nicht nur mit Bravour genommen, sondern er hat die Welt mit einem Stück Musik beschenkt, das, würde es jeder Erdenbürger in Ost und West, ob arm oder reich, alt oder jung einmal am Tag hören, die Pforten zu einer besseren Zukunft öffnen würde.
Wolf Kampmann
Der 1976 in Berlin geborene deutsch-amerikanische Pianist Benny Lackner lebte seit seinem 13. Lebensjahr in Kalifornien und New York und führte viele Jahre lang ein Leben auf zwei Kontinenten, bis er 2008 endgültig nach Berlin zog – das Leben auf Achse kennt er nur zu gut. Irgendwann aber wollte er einfach nur noch ankommen. Von dieser Sehnsucht nach einem Zuhause und sicheren Hafen handelt DRAKE (Ozella, 2019), das aktuelle und insgesamt sechste Album seines Trios, welches er 2002 in New York gegründet hat und das seither zahlreiche Konzerte auf Bühnen beinahe aller Kontinente gespielt hat.
Diese langjährige auf Vertrauen basierende Beziehung zwischen Benny Lackner, Schlagzeuger Matthieu Chazarenc und Bassist Jerome Regard zeichnet sich durch ein schon fast telepathisch zu nennendes Zusammenspiel aus und auch durch eine gewachsene Gelassenheit. Bei einem gemeinsamen Auftritt im Rahmen des XJazz-Festival 2016 trafen sich die Musiker auf einem neuen Level der Entspanntheit. „Es ging nicht darum, uns zu beweisen oder zu zeigen wie schnell wir spielen können. Es ging nur noch um den Song und darum, den Melodien Raum zu geben. An dem Abend haben wir unseren Sound als Band endgültig gefunden.“
Schon bald kristallisierten sich die Songs für das nächste Studio-Album heraus. Rise to the Occasion ist mit seinen Field Recordings, Drum-Loops und tief schürfenden Improvisationen ein Highlight von DRAKE und steht stellvertretend für den charakteristischen elektroakustischen Stil der Formation. Gleichzeitig repräsentiert der Song das Prinzip, sich voll und ganz auf die Essenz zu konzentrieren. Und es ist genau dieses Arbeiten an einem ganz speziellen elektro-akustischen Klangbild in Kombination mit einem besonderen Gespür für Melodien und Harmonien, die nicht den gängigen Mustern und Erwartungen entsprechen, welches das Klaviertrio herausstechen lässt in der Jazz-Piano-Trio-Landschaft. Nicht Swing-Elemente und ausufernde Improvisationen mit Fokus auf den größtmöglichen Effekt begegnen einem hier, sondern einfache musikalische Themen, die mit Besonnenheit und Emotion ausgeschmückt werden, die neben reizsetzenden elektronischen Effekten auch einen ruhigen Puls mit sich tragen, der die Basis für intensive Klangmalerei ist.
Dabei werden gelegentlich auch Elemente der Fusion-Bewegung der Siebziger herangezogen, mitunter eben wie einige Bands jener Tage ohne den überstark betonten elektronischen Ausdruck und in den Intensität weniger ausgeprägt. Vielmehr wird dann doch zurückgefahren, zumal ja auch keine satten E-Gitarren in das Klangbild eingreifen, das letztlich eben von den Keyboards und dem gelegentlichen Einsatz elektronischer Effekte gestaltet wird. Mitunter, wie auf Rise To The Occasion, schleichen sich Trance-artige Passagen ein, vom einförmig voranschreitendem Schlagzeug unterstützt, darüber zirpt es mitunter ganz dezent und filigran. Filigran, ja, solche Songs gibt es auch komplett so zubereitet, sanft tupfend ziehen sich Piano-Klänge durch das dahinschwebende Decompression, wobei dieses durch die Rhythm Section zart schleppend noch unterstützt wird, auch ist It’s Gonna Happen ein gutes Beispiel dafür. Entwurzelt lässt den Bassisten mit verzerrtem Sound agieren, man könnte meinen, eine E-Gitarre hätte sich nun eingemogelt. So sind es ständig diese kleinen Nuancen, die das Gesamtbild angenehm anreichern und für Spannung sorgen.
So ist schließlich Musik entstanden, die warm strömt im Sonnengeflecht und dem Jazz eine ganz moderne Note gibt, zart und feinfühlig und behutsam agierend, das Kopf-Kino inspirierend zu individuellen Soundtracks, kurzum, Musik für alle Gelegenheiten.
Wolfgang Giese